notix: kurzes reinschauen auf der virtuellen durchreise
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ein nachtrag zum letzten beitrag:
Angesprochen auf die Reaktion des Bundeskanzlers auf das Wahlergebnis vom Sonntag, sagte der Sloterdijk: "Schröder leidet nicht an Realitätsverlust, im Gegenteil, er genießt ihn. Außerdem ist der Ausdruck ,Verlust' irreführend. Schröder hat die wichtige Entdeckung gemacht, dass es auch ohne Realität geht." Realität sei "nur ein depressives Konstrukt für Leute, die sie noch nötig haben".
realitätsfähigkeit, die immer auch etwas mit psychophysischer gesundheit zu tun hat, als kultureller selektionsnachteil - wahrlich, wir haben´s weit gebracht! und wenn die realität depressiv macht (ich erinnere nur an die zwanzig millionen packungen verkaufter antidepressiva pro jahr in deutschland), dann bist du, sind Sie selbst schuld - schließlich lassen sich ja beliebige wunschrealitäten konstruieren. ein verkappter aufruf für ein leben im permanenten wahn? ich bezweifle stark, dass sloterdijk hier ironisch sein wollte. und selbst wenn, so hat er doch unfreiwillig das realitätsprinzip aller konstruktivisten kurz und bündig umschrieben.
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was sog. vernünftige ausgewogenheit für folgen haben kann, macht die schriftstellerin juli zeh in einem beitrag für die zeit deutlich:
"Um Missverständnisse zu vermeiden: Hier soll nicht in banal-kapitalismuskritischer Absicht die Bedeutung ökonomischer Zusammenhänge für unser Leben kritisiert werden. Auch geht es nicht darum, die grundsätzliche Wirtschaftsversessenheit unserer Gesellschaft zu beklagen. Diese ist Konsequenz eines zunehmenden Pragmatismus, der wiederum denknotwendig aus dem wünschenswerten Zurücktreten ideologischer Haltungen resultiert. Trotzdem sollte sich die Politik um ihrer selbst willen davor hüten, ihre Inhalte und ihr äußeres Erscheinungsbild zunehmend in ökonomischen Angelegenheiten aufgehen zu lassen."
also, ich lese: erstens, kapitalismuskritik ist banal, wenn die totalitäre durchökonomisierung aka verdinglichung unseres lebens kritisiert wird. zweitens sollte das erst recht nicht beklagt werden. und drittens ist all das pragmatisch (eines der lieblingswörter - neben dem berüchtigten sachzwang - der sog. realisten, die allerdings seltsamerweise immer nur das als realität anerkennen, was ihnen in ihren konstruktivistischen kram passt), von daher wünschenswert. viertens aber wird der autorin bei derlei viel realität dann doch etwas unheimlich, und bitte bitte liebe politik, ein wenig regulieren und abfedern soll´s schon sein. mäh! schafe blicken auf, und schafe schreiben eben manchmal auch bücher. und schafe machen auch bocksprünge, wenn eine ideologie namens "pragmatismus" als nicht-ideologie bezeichnet wird.
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warum nur fällt mir dazu dieses ein?
"Ein Mann darf nicht weinen", weiß er. Und so setzt er sich an den Schreibtisch und feiert die Macht, über die er nicht mehr verfügt. Stoisch rühmt er die Realpolitik, die ihn zerschlagen hat. Er preist die Treulosigkeit, die Gewalt und die Heuchelei, rechtfertigt den Erfolg der Ruchlosen, den Sieg der Grausamen und die List der Betrüger - mit einem grundlegenden Argument: So ist nun einmal das Leben."
In der Politik sei alles erlaubt, dekretiert er. Es gebe kein Gut und kein Böse - nur taugliche und untaugliche Mittel. Verwerflich sei nur der Mangel an Entschlusskraft - "dass die Menschen weder verstehen, in Ehren böse noch mit Vollkommenheit gut zu sein". Das Recht zur Grausamkeit hänge nur "davon ab, ob die Grausamkeiten gut oder schlecht angewandt sind". Und vom richtigen Timing: "Gewalttaten muss man alle auf einmal begehen, damit sie weniger empfunden werden und dadurch weniger erbittern", rät er.
ja, so ist nun einmal das leben. was für ein gnadenlos beschissener satz, der immer und immer wieder nur dazu dient, mörderische zustände zu rechtfertigen, die niemals so sein müssten, wie sie sind. die relative popularität von machiavelli gehört auch zu jenen dingen, die eigentlich alles essentielle über diese sog. zivilisation hier aussagen.
monoma - 23. Sep, 20:25